Bei der Arbeit mit den Kindern beobachtete Maria Montessori immer wieder, dass Kinder in einem bestimmten Alter ein starkes Interesse und hohe Lernbereitschaft für bestimmte Lerninhalte entwickeln und dieses Wissen mit Leichtigkeit aufgenommen wird. So kam sie zur Erkenntnis, dass die Entwicklung des Menschen, vor allem des „kleinen Menschen“, sprich des Kindes, in verschiedenen Phasen abläuft. In jeder sensiblen Phase wird das Fundament für die darauffolgende gelegt.
Die sensiblen Phasen sind zwar in ihrer Reihenfolge festgelegt (Aufbau, Ausbau, Umbau), allerdings sind die Altersspannen nicht statisch anzusehen, sondern dienen als Durchschnittswert. Je nach Kind kann diese Phase etwas früher oder später beginnen und etwas kürzer oder länger andauern. Diese Lern-Zeitfenster sind vorübergehender Natur und dienen nur dazu, den Erwerb bestimmter Fähigkeiten zu ermöglichen. Sie öffnen sich, sobald das Kind dafür bereit ist und schließen sich, sobald bestimmte Fähigkeiten erworben und ausreichend gefestigt sind. Allerdings schließen sich diese auch dann, wenn die Phase (durch äußere Umstände) ungenutzt bleibt und Fähigkeiten nicht erworben wurden.
Während dieser sensiblen Phasen besteht eine natürliche Lernbereitschaft für spezielle Dinge. Das Kind ist besonders interessiert und aufnahmebereit, sich gewisse Fähigkeiten anzueignen oder spezielles Wissen zu erwerben. Innerhalb dieser Phase gelingt dies ohne große Mühe, wenn das Interesse gefördert und genährt wird. Zu einem früheren bzw. vor allem zu einem späteren Zeitpunkt wird dies nur mit großer Anstrengung und Willenskraft und mit deutlich mehr Zeitaufwand gelingen.
Deshalb ist es besonders wichtig, sich dieser Zeitfenster bewusst zu sein, um mit entsprechend vorbereiteter Umgebung, Materialangeboten oder anderen Lernerfahrungen fördernd darauf reagieren zu können.
Die Zeit des Aufbaus
0 bis 3 Jahre – Die Phase des absorbierenden Geistes
D.h. des „in sich aufnehmenden Geistes“. Viele Eindrücke werden vom Kind unbewusst aufgenommen. Es saugt sie auf, wie ein Schwamm, kann diese allerdings noch nicht bewusst zuordnen.
In dieser Phase ist das Kind besonders sensibel für:
Bewegung (Grobmotorik, Feinmotorik), Sprache, Sinneserfahrungen, Ordnung, Mathematische Grunderfahrungen
Bewegung: Hand-Hand-Koordination, Hand-Auge-Koordination, Gleichgewicht und Körperkoordination trainieren (v.a. beim Laufen lernen), Grob- und Feinmotorik ausbilden
Sprache: Nicht umsonst heißt es, man solle das Kind „in Sprache baden“. Nie wieder erlernt das Kind so spielen leicht eine Sprache, wie in dieser Zeit. Immer besser gelingt es, gehörte Laute und Worte nachzubilden und Worte bestimmten Personen oder Dingen zuzuordnen (Mama, Ball etc.).
Sinneserfahrungen: riechen, schmecken, sehen, hören, fühlen – all diese Eindrücke werden aufgesaugt und gespeichert. Alles ist interessant und muss auf unterschiedlichen Sinnes-Wegen erforscht werden (z.B. Bausteine ansehen, anfassen und in den Mund stecken).
Ordnung: Hier ist leider nicht unbedingt gemeint, dass das Kind in dieser Phase am besten lernt, wie es sein Zimmer sauber und ordentlich hält, sondern eher, dass hier besonders wichtig ist, Verlässlichkeit zu schaffen. Wiederkehrende Rituale, feste (verlässliche) Regeln und Ordnung (z.B. die Jacke wird immer an den Garderobenhaken gehängt, das Spielzeug kommt abends immer zurück in die Kiste), geben dem Kind Sicherheit und Halt.
Es schafft eine sichere Konstante und sorgt für Orientierung in einer Zeit, in der unendlich viele neue Eindrücke gesammelt und eingeordnet werden müssen.
Mathematische Grunderfahrungen: Das Kind sammelt auch bereits in dieser sehr frühen Phase schon erste wichtige mathematische Grunderfahrungen. Ein Löffel, zwei Füße, drei Kuscheltiere, das eigene Alter in Fingern anzeigen können. Auch die Raum-Lage-Wahrnehmung (oben-unten, links-rechts) ist bereits eine Vorbereitung für mathematisches Verständnis.
3 bis 6 Jahre – Die Phase der Vervollkommnung
Alle bisher gemachten Erfahrungen und gesammelten Eindrücke werden sortiert und differenziert. Alle bisher erworbenen Fähigkeiten werden ausgebaut und verfeinert. Der Wortschatz erweitert und verfeinert sich immer mehr, Interesse an Buchstaben und Schreiben/Lesen entsteht, Kenntnisse in Zahlen benennen, Zahlenabfolge, Zählen, Mengen einer Zahl zuordnen, Zahlen schreiben etc. werden angeeignet und erweitert. Das Kind entwickelt jetzt auch ein starkes Interesse für Naturzusammenhänge, wie Jahreszeiten, Jahreslauf (Erdbeeren im Juni, Blätter im September/Oktober) und Tiere.
Das Kind nimmt seine Umwelt viel bewusster wahr und setzt sich intensiv damit auseinander. Es hat jetzt einen regelrechten Forscherdrang, der sich in unendlichen Warum-Fragen und z.B. auseinandergenommenen Alltagsgegenständen oder Spielzeugen ausdrückt. Das Kind sucht immer mehr den Kontakt zu anderen außerhalb der eigenen Familie (Kinder, Erwachsene, z.B. Kindergarten oder Kindergruppen), erste Freundschaften und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe entstehen.
Die Zeit des Ausbaus
6 bis 12 Jahre
Das Kind befindet sich in der Ausbauphase. Diese gilt als sehr stabil und geht ohne solch großen Veränderungen wie in der Zeit von 0-6 Jahren einher. Der soziale Aktionsbereich wird erweitert – die Familie als (einziger) Lebensmittelpunkt rückt etwas in den Hintergrund. Kinder sammeln nun immer mehr Erfahrungen außerhalb der Familie. Freundschaften, schulische Aktivitäten, Sportverein etc. nehmen immer mehr Raum ein und erhalten eine immer größere Bedeutung.
Kinder entwickeln nun ein eigenes moralisches Bewusstsein (=Gewissen) und haben einen starken Gerechtigkeitssinn. Sie reagieren empfindlich auf Übertretungen der eigenen Grenzen bzw. Missachtung der eigenen Werte und Normen. Regeln werden nicht mehr einfach nur als gegeben hingenommen, sondern mit den eigenen Werten/Normen abgeglichen und ggf. hinterfragt.
Das rein handelnde Lernen wird nach und nach abgelöst – das Wissen kann nun auch durch abstraktes Lernen (z.B. Lexika) erweitert bzw. ergänzt werden. Das abstrakte Lernen und abstraktes Denken tritt nach und nach immer mehr in den Vordergrund.
Die Zeit des Umbaus
12 bis 18 Jahre
Diese Phase ist buchstäblich sehr sensibel. Sie gilt als äußerst labil, da dies die Zeit des großen Umbruchs und der Neuorientierung ist. Mit einer großen Ladung diverser Hormone im Gepäck, müssen sich die Jugendlichen mit Veränderungen des eigenen Körpers, aber auch des Gemüts ihren Platz in der Welt suchen. Alles Gewohnte, alle bisherigen Ansichten werden infrage gestellt, neu bewertet und notfalls wieder infrage gestellt und verworfen. Die Stimmung kann innerhalb von Sekunden ins Gegenteil umschlagen. Der Einfluss der Familie nimmt immer mehr ab, während Freunde und Cliquen zum Lebensmittelpunkt werden. Die Heranwachsenden sind hin- und hergerissen zwischen einerseits gewollter Geborgenheit und Schutz, andererseits aber stark eingeforderter Selbstständigkeit und Abgrenzung/Abnabelung. In dieser Zeit gilt es, den Balanceakt zwischen beiden Polen Halt geben und Loslassen zu gestalten. Jugendliche wollen ernst genommen werden, Entscheidungen bewusst selbst treffen und haben jetzt ein enormes Bedürfnis nach Bestätigung, d.h. nach Stärkung ihres Selbstbewusstseins. Denn Selbstvertrauen ermöglicht und fördert die benötigte Selbstständigkeit, um schließlich den ganz eigenen Platz in der Gesellschaft finden.