Wir müssen von Zeit zu Zeit eine Rast einlegen und warten, bis unsere Seelen uns wieder eingeholt haben. Deinem Kind geht es genauso!
Bücher über Achtsamkeit, Meditation und Resilienz füllen meterweise die Regale in Buchhandlungen. Kurse für Anti-Stress-Training und Burn-out-Prophylaxe erleben einen regelrechten Boom. In unserer modernen, auf Beschleunigung und Informationsflut ausgerichteten Zeit, scheint eine immer größere Sehnsucht nach Balance, also Ruhe und Entspannung zu wachsen. Erholung von der Reizüberflutung im Alltag (Termine, Medien, Handy, soziale Netzwerke etc.) wird immer wichtiger. Sonst leidet irgendwann nicht nur der Geist, sondern immer häufiger auch der Körper. Doch wann und wie beginnt man damit, sich der Hektik des Alltages bewusst zu werden und wie stellt man es denn an, wieder zu innerer Ruhe und Ausgeglichenheit zurück zu finden?
Natürlich schon im Kindergarten!
Denn weder ist Meditation eine neue Erfindung, noch auf die Erwachsenenwelt beschränkt. Und je früher es in Fleisch und Blut übergeht, sich bewusst kurze Inseln der Ruhe im Alltag zu schaffen, desto größer ist der Gewinn für Körper und Geist! Hierzu ist es wichtig, regelmäßig Erfahrungen zu sammeln, den Unterschied von Anspannung (Phasen von hoher geistiger oder körperlicher Aktivität) und Entspannung (Phasen der Ruhe) zu fühlen, um rechtzeitig wieder eine Balance herstellen zu können. Auch hier hält Maria Montessori ein wunderbares Konzept bereit: die Übungen der Stille!
Stille und auch Stilleübungen werden sehr oft missverstanden bzw. teilweise auch aus Unwissenheit „missbraucht“. Stille im Bezug auf Schule bedeutet meist ein „erzwungener“ Zustand der Abwesenheit von Lärm, Aktivität oder Gesprächen. Das nennt sich äußere Stille. Das ist allerdings nicht gleichbedeutend mit innerer Stille, zu der die Übungen der Stille in der Montessori-Pädagogik hinführen wollen.
Übungen der Stille dürfen daher nicht als Disziplinierungsmaßnahme zweckentfremdet werden, um im Akutfall „wieder Ruhe in den wilden Haufen zu bringen“, sondern sollten als festes Ritual verankert werden.
Das Gegenstück zum äußeren Lärm ist der innere Lärm des Denkens. Das Gegenstück zur äußeren Stille ist innere Stille jenseits der Gedanken – Eckhart Tolle
Der Unterschied von aufgezwungener Stille und innerer Stille ist nicht nur sicht- sondern auch deutlich spürbar. In Situationen der „verordneten“ Stille kann ein guter Beobachter sehen, wie sich die Kinder selbst zur Ruhe zwingen müssen. Sie wirken still und dennoch gleichzeitig sehr unruhig. Diese Art der Stille wird von den Kindern in der Regel als anstrengend und somit als negativ empfunden. Die Atmosphäre in der Klasse macht diesen angespannten Zustand auch fühlbar. Wer kennt nicht aus eigener Erfahrung den Unterschied von angenehmer (kraftspendender) Stille und unangenehmer, fast nicht aushaltbarer Stille.
Wirkliche (innere) Stille kann somit also niemals erzwungen werden, sondern setzt die Bereitschaft aller voraus, die an dieser Stille teilhaben wollen.
Übungen der Stille geben Raum für innere Sammlung – Kopf und Seele können wieder auftanken. Die Erfahrungen von erlebter innerer Stille in der Gruppe befähigen das Kind dazu, auch im Alltag (außerhalb der Gruppenübungen) für sich selbst zu dieser Stille zu finden, z.B. mit Hilfe einer Liegenden Acht.
Stilleübungen verbinden Ruhe, ruhige Bewegung, stilles Sitzen oder Liegen mit Wahrnehmung und Sinneseindrücken. Die Übungen können sehr flexibel variiert, erweitert oder verkürzt werden.
Die Übungen sollten in Umfang und Dauer auf die Bedürfnisse der Kinder zugeschnitten sein (ca. zwischen 5-15 Minuten). Bei sehr unruhigen Gruppen lieber erstmal etwas kürzer, bei geübten Gruppen, die die Übungen sehr genießen, ruhig etwas länger.
Der Fokus kann sehr individuell ausgerichtet werden. Es kann auf die Atmung geachtet werden (Atemmeditation), auf Balance (Gehen auf einer Linie z.B. mit einem Teelicht in der Hand), auf Geschicklichkeit und Konzentration (reihum wird von einem Kind zum anderen ein Glöckchen gereicht, ohne dass es klingelt) oder z.B. auf die Körperwahrnehmung (reihum wird ein bestimmter Buchstabe, eine Zahl oder ein Zeichen auf den Rücken des Sitznachbarn gemalt – kommt beim letzten Kind auch tatsächlich noch der Buchstabe oder das Zeichen vom Kreisanfang an, oder hat es sich geändert?). Auch die Sinne wie riechen, hören, schmecken können mit einbezogen werden. Jahreszeitliche Besonderheiten (z.B. Herbstanfang, Weihnachten etc.) können mit einfließen.
Hier gibt es sehr vielfältige Variationsmöglichkeiten.
Die Vorbereitung einer Stilleübung:
Die Übung sollte in einem dem Zweck entsprechenden Raum stattfinden, d.h. ein Raum, der für die Zeit der Stilleübung nur hierfür reserviert ist und durch ein ‚Bitte nicht stören‘-Schild oder abschließen der Türe vor Unterbrechungen schützt. Die Raumgröße sollte ausreichend für einen nicht zu engen Sitzkreis für die entsprechende Anzahl der Kinder sein. Gut ist ebenfalls, wenn der Raum etwas abgedunkelt werden kann. Außerdem ist zu beachten, dass hier nicht allzuviel Ablenkung (Spiele, Spielgeräte etc.) vorhanden sein sollte (am geeignetsten ist meist ein Turn-/Gymnastikraum). Die Übung der Stille, deren Sinn, Durchführung und Regeln sollten vorher schon einmal mit den Kindern besprochen worden sein.
Sonnenübung:
(rundes) Tablett oder Sonne aus Tonkarton
Teelichter (wenn vorhanden in entsprechend kleinen Gläsern geschützt)
gelbe oder orange Krepppapierrollen (mit ca. 3-5 cm Breite)
Die Menge der Teelichter und Krepprollen richtet sich nach der Anzahl der Teilnehmer.
Die Länge der Kreppbänder wird der Raumgröße angepasst. Die Kinder bilden einen Sitzkreis, das Tablett mit den (evtl. schon angezündeten) Teelichtern und Kreppbandrollen steht in der Mitte. Die Stilleübung beginnt mit einem leisen Signal (Glöckchen, Triangel etc.). Der Erwachsene nimmt eine Kreppbandrolle und rollt diese als Sonnenstrahl vom Tablett bzw. der Tonkarton-Sonne ausgehend in Richtung seines Sitzplatzes (die Streifen sollten also vorher auf die entsprechende Länge zugeschnitten werden, damit sie nicht zu lang sind). Nun nimmt er ein Teelicht und stellt am Endpunkt des Strahles (vor seinem Sitzplatz) ab. Danach blinzelt er einem Kind zu, das nun an der Reihe ist. Je nach Alter der Kindergruppe blinzeln sich die Kinder gegenseitig zu, um (ohne zu sprechen) zu signalisieren, wer an der Reihe ist, oder der Erwachsene übernimmt diese Rolle.
Am Ende der Übung erhellt eine warm strahlende Sonne den Raum!
Will man die Übung erweitern, kann an dieser Stelle auf die nun eingetretene Stille hingewiesen werden und die leisen Geräusche, die nur dadurch erst hörbar werden. Welche Geräusche werden wahrgenommen? Wo kommen sie her?
Wie wird die Stille empfunden? Als angenehm (warum?), als unangenehm (warum?)…
Da in diesem Teil der Übung wieder gesprochen wird, wird dies entweder mit sehr leiser Stimme oder im Flüsterton getan.
Die Übung kann so enden wie sie begonnen hat: mit einem leisen Klangsignal.
Eventuell gelingt die Übung nicht auf Anhieb wie erhofft. Viele Kinder (aber schließlich auch Erwachsene) haben Startschwierigkeiten, um wirklich zur Ruhe zu finden. Es ist gut möglich, dass es einiger Wiederholungen bedarf, bis sich die Kinder ganz darauf einlassen können. Hier also bitte nicht gleich von Unruhe irritieren lassen und dies als Interesselosigkeit missinterpretieren. Auch bei einer eher unruhigen Übung machen die Kinder erste Bekanntschaft mit den eigenen Gedanken und Impulsen, die während der Stillephase auftreten – Stichwort unruhiger Geist, der auch den meisten Erwachsenen, die sich mit Meditation beschäftigen, sehr gut bekannt sein dürfte. Wie gehe ich damit um? Gebe ich dem Impuls nach? Hier kann im Anschluss an die Übung ein Gespräch über gesammelte Erfahrungen stattfinden. Um mit diesen „rasenden Gedanken“ besser umzugehen, kann man sich einer Methode aus anderen Entspannungstechniken bedienen: die auftretenden Gedanken zwar wahrnehmen, aber sich nicht weiter darum zu kümmern (diesen Gedanken nicht nachzugehen) und sie – wie Wolken am Himmel – vorüberziehen lassen. Nach Abschluss des Erfahrungsaustausches kann hierzu eine kurze „Trockenübung“ erfolgen, um diese Technik vielleicht schon bei der nächsten Übung der Stille anwenden zu können.
So kann auch eine nach eigenen Vorstellungen nicht unbedingt gelungene Übung der Stille sehr gewinnbringend gewesen sein!
Wirkung der Stilleübungen:
- Stille als Kraftquelle erleben
- Frische-Kick fürs Gehirn (verbesserte Konzentration)
- Kreativität steigern (neue Ideen, Lösung für ein Problem)
- Impulssteuerung/Selbstdisziplin trainieren
- sich selbst zur Ruhe bringen können
- innere Ausgeglichenheit herstellen
- zur Erhaltung seelischer und körperlicher Gesundheit
- Stressabbau
- Resilienz steigern
Das meiste funktioniert wieder, wenn man es kurz mal abschaltet! Du auch!